Unter uns

Wenn du nicht weißt, was du willst

Wenn die Frage einen über dreißig einholt und nach einer dringenden Antwort verlangt, kann man leicht in eine Selbstfindungskrise geraten. Etwas scheint zu fehlen, obwohl man eigentlich glücklich sein sollte.  Man versucht das Gefühl zu verleugnen, aus Angst vor Veränderung, doch die Frage bleibt:

Was will ich wirklich?

Es ist eine dieser Fragen, die im Verlauf des Lebens erst einfach und dann zunehmend schwerer wird.

Als Kind war es einfach: Ich will diese Puppe! Ich will Schokoladeneis! Ich will nicht früh schlafen gehen!

Sobald es nach der Schule gilt, die Weichen für das zukünftige Leben zu stellen, kommt einem diese Frage schon schwerer vor. Zu groß sind die Möglichkeiten, zu viel Auswahl, zu wenig Erfahrung, nicht genug Selbstkenntnis. Aber auch da hat man ja noch Zeit, sich auszuprobieren.     

Nach dem Abi hatte ich nicht den Hauch einer Idee, was ich beruflich machen wollte. Ich wusste, ich sollte irgendetwas studieren. Das war schon seit der ersten Klasse gesetzt. Zum einen, weil es ein angesehener Abschluss war und ich dachte, dass es von mir erwartet wurde. Zum anderen, weil ich gut in der Schule war und mit einem guten Zeugnis „geht man doch nicht in die Ausbildung“. Das stand also außer Frage. Aber was sollte ich studieren?

Ich könnte alles tun, wenn ich nur wüsste, was ich will

Meine Schwester schenkte mir nach dem Abi das Buch mit dem verlockenden Titel „Ich könnte alles tun, wenn ich nur wüsste, was ich will“. Das war das erste Mal, dass ich mich mit dieser Frage auseinanderzusetzen versuchte: Was genau will ich?

Und selbst am Ende des Buches angelangt, war meine Antwort immer noch: Keine Ahnung.

Ich rang mich schließlich zum Studium von „irgendwas mit Wirtschaft“ durch, um in der Arbeitswelt eine Chance auf einen Job zu bekommen, und Fremdsprachen, um das trockene Wissen mit etwas Würze abzuschmecken. Ein ungleicher Kompromiss zwischen viel rationalem Verstand und ein wenig Herz. Und ab da schien mein Weg mehr oder weniger klar zu sein: Studium, Praktikum, Bürojob. Ich konzentrierte mich darauf – froh darüber, mich nicht mit dieser bohrenden Frage nach dem, was ich will, beschäftigen zu müssen. Denn ich wusste nicht, was ich sonst tun wollte.

Wenn die unbeantwortete Frage dich einholt

12 Jahre später, in einem „geregelten“ Leben angekommen, holte mich diese Frage erneut ein. Und dieses Mal zwang mich mein Herz, mich damit auseinanderzusetzen. Erst schlich sich langsam die Unzufriedenheit ein, die ich anfangs noch mit einem Handwisch ignorierte – bis sie mit der Zeit in eine depressive Stimmung umzukippen drohte. Da wusste ich, dass ich keine andere Wahl hatte, als mich auf die Suche der Antwort zu begeben, wenn ich nicht für den Rest meines Lebens unglücklich sein wollte.

Was will ich wirklich?

Wenn ich nach dem Abitur noch die Frage mit einer temporären Lösung mir vom Hals halten konnte, wurde diese temporäre Lösung mit über dreißig nicht mehr akzeptabel. Ich hörte die Uhr wie eine Zeitbombe ticken und die Antwort wurde dringlich. Sie musste sofort her.

Doch ich sah sie einfach nicht, egal wie oft ich mich gefragt und meine Fähigkeiten analysiert habe. Auf Seminaren und Vorträgen hörte ich von Coaches und Motivationsrednern immer das Gleiche:

„Du weißt die Antwort, du kannst sie nur nicht hören.“

Es frustrierte mich zutiefst, denn egal wie oft ich mein Herz gefragt habe, schien es keine Antwort darauf zu wissen.

Und wenn ich es wirklich nicht weiß?

Wann immer ich mich fragte, was ich vom Leben wollte, zwangen sich die üblichen Dinge mir auf: Job, Ehe, Haus, Kinder, Urlaub. Und nichts davon begeisterte mich. Es wäre nichts Falsches an diesen Zielen, WENN SIE WIRKLICH AUS DEM HERZEN KÄMEN. Doch das waren sie nicht. Und dennoch sah ich nichts anderes als das.

Bis ich nach vielen Monaten der Selbstreflektion endlich erkannt habe, woran es lag: Jedes Mal, wenn ich mir die Frage nach meinen Wünschen gestellt hatte, hörte ich auf den Verstand  – nicht auf mein Herz. Denn das Herz hatte nichts als verwirrende Gefühle vorzuweisen, während der Verstand klare Vorstellungen hatte, gut geformt von Normen und Werten der Außenwelt. Diese waren vertraut, wie eine Verwandtschaftssippe, in die man hineingeboren wird. Sobald die Zweifel aufkamen, umkreiste diese Sippe mich und schrie mir Ratschläge zu, die das Flüstern des Herzens übertünchten.    

Welche Werte sind wirklich meine?

Wir alle werden seit dem Tag unserer Geburt – ob absichtlich oder unabsichtlich – von den Wertvorstellungen der Außenwelt beeinflusst. Deshalb ist es so schwer, sie als solche und nicht als eigene wahrzunehmen. Irgendwann kommt aber die Phase der Filterung. Früher oder später.

Nun, bei mir war es eher später. Denn bis dahin dachte ich, dass es meine Vorstellungen waren. Ich richtete meine Ziele nach diesen allgemeinzulässigen Normen eines „erstrebenswerten“ Lebens aus – und wunderte mich dann, warum sich mein Leben wie das einer Fremden anfühlte. Es erfüllte mich nicht. Vielmehr war es wie ein solider und sicherer Käfig, den ich mir selbst freiwillig und mithilfe der sozialen Normen erschaffen habe. Wenn diese Werte aber nicht meine waren, welche waren es dann? Das war mir immer noch nicht klar.

Phase 1: Das nicht! – sagt das Herz

Zumindest begriff ich langsam, was ich nicht wollte: DAS! Diesen stabilen und sicheren Käfig, in dem mein Herz die Flügel nicht ausbreiten konnte. Es wollte raus, ausbrechen, etwas „Unnormales“ tun. Ich wusste immer noch nicht, was genau es war, aber DAS NICHT! Es war ein Anfang auf dem langen Weg der Suche nach dem, was ich wollte. Doch zumindest konnte ich schon benennen, was es nicht war.    

Phase 2: Die Sache mit den Erwartungen

Wann immer mich solche Gedanken beschlichen, setzte sofort der antrainierte Mechanismus wieder ein. Die vertraute Normensippe ließ sich nicht so einfach abschütteln. Nein, sie umschwirrte mich erneut und redete wild auf mich ein:

Das kannst du doch nicht machen! Bist du denn von allen guten Geistern verlassen worden? Was fällt dir ein, die SICHERHEITEN aufzugeben! Du bist ja keine zwanzig mehr, um solche Flausen im Kopf zu haben! Was würden die anderen sagen? Sei doch zufrieden mit dem, was du hast! Was willst du denn noch?

Das schlimmste daran war, dass sie mir das Gefühl vermittelten, versagt zu haben. Irgendwie nicht „normal“ zu sein.

Sie hatten mich fest im Griff. Und es wäre womöglich noch bis heute so, wenn mein Herz nicht genug davon gehabt hätte. Es beschloss, dass es an der Zeit war, die Flucht zu ergreifen. Ich hatte die Kraft meines Herzens unterschätzt. Denn ehe ich wusste, wie es mir geschah, trug es mich auf seinen Flügeln davon, nach Lissabon. Warum Lissabon? Ich hatte keine Ahnung, nur ein Gefühl, dass ich dorthin musste.

Doch auch hier erreichte mich die lästige Normensippe: Was willst du denn jetzt machen? Über dreißig und hast nichts vorzuweisen!

Es war ein langer und ermüdender Kampf. Bis ich begriff, dass ich nicht gegen die Erwartungen der Normensippe ankämpfte. Vielmehr erwartete ich von mir selbst, dass ich diese Normen erfüllen musste, um nicht versagt zu haben.

Der einzige Kampf, den ich führte, war mit mir selbst.

Phase 3: Alles darf sein

Es war also Ego gegen Herz. Das Soll gegen Nicht-Will. Die Erwartungen eines Lebensplans gegen das Chaos des Unbekannten. Meine Außenrolle gegen meine innere Gefühlswelt.

Das Schwierigste daran war, mich von den Erwartungen des eigenen Egos zu befreien, das mich als Versagerin abstrafte. Mich von dieser Rolle einer Frau zu lösen, die erfolgreich ihr sicheres Leben führte. Denn was blieb dann? Eine Träumerin, die sich freiwillig ins unbekannte Chaos stürzte.

Schließlich wurde ich müde zu kämpfen. Ich war erschöpft. Fast schon gleichgültig gab ich dem Ego recht.

Na und? Dann bin ich eben, was ich bin! Ich kann einfach nicht mehr.

Als nächstes passierte etwas Unerwartetes: Als ich meinen Status Quo akzeptierte, fühlte ich Erleichterung, froh drum, nicht mehr kämpfen zu müssen. Nicht mehr denken zu müssen. Mich nicht mehr für mein Versagen schämen zu müssen.

Und das war dann der wirkliche Beginn meiner Suche. Erst als ich mir selbst nicht mehr vorspielen musste, was ich war oder sein sollte, konnte ich beginnen, die unbekannten Weiten meiner inneren Welt zu erforschen.  

Phase 4: Folge deiner Freude   

Es passiert nicht über Nacht. Man wacht nicht plötzlich auf und weiß sofort, was man in seinem Leben von nun an anstellen will. Man wird auch nicht sofort vom Blitz getroffen, der einen klarer sehen lässt. Vielmehr ist es wie ein Irren im Wald. Man lässt sich darauf ein in der Hoffnung, dass man irgendwann auf einen Weg stößt.

Doch das Irren kann auch Spaß machen, wenn man der fröhlichen Stimme folgt, die einen irgendwo hinter den Bäumen lockt.

Ich tat es unbewusst. Der Hunger nach Leben drängte mich dazu, dieser Stimme der Freude folgen. Ich probierte aus, was mir Spaß machte, ohne nun mehr Angst zu haben, zu versagen. Was hätte denn schlimmes passieren können? Noch einmal zu versagen? Das ängstigte mich nicht mehr, denn an diesem Punkt war ich schon und habe es überlebt.

Was aber passiert, wenn du das machst, was dir Freude bereitet? Ganz egal, was es ist und auch wenn nur kurz, für ein paar Minuten am Tag:

Du fühlst dich glücklich. Du fühlst die Leichtigkeit, die dir beim Abmühen abhandengekommen war. Und das Wichtigste:

Du bist im Hier und Jetzt vollkommen frei.

Und ist es nicht der Grund, weshalb du herausfinden willst, was du willst? Um dich damit dann glücklich, leicht und frei zu fühlen?

Die Freude, die in dir entsteht, schickt den immer wieder suchenden und sich sorgenden Verstand kurz in die Pause und übernimmt das Kommando. Auf einmal spürst du, wie dein Herz fröhlich japst und der Magen kribbelt.

Das ist der Moment, an dem dein wahres Ich dir zeigt, was du wirklich willst.

Doch dann kämpft sich der Verstand aus der Pause zurück und erklärt dir, warum dies oder jenes nicht geht. Und schwups ist das Kribbeln und Japsen vorbei.

Was ich daraus lernen durfte: Lass dir Zeit beim Irren im Wald. Fokussiere dich nicht darauf, einen Weg zu finden, der dich herausbringt. Denn existierende Wege führen zu bereits bekannten Zielen. Dein Ziel ist aber noch unbekannt. Folge dieser verspielten Stimme, die dich mit Freude lockt, und vertraue darauf, dass sie dich im richtigen Moment aus dem Wald genau dorthin führt, wo du sein solltest. Ganz sicher.

Der Trick dabei ist, trotz der „vernünftigen“ Argumente, sich vom Spielverderber-Verstand nicht die Freude daran nehmen zu lassen, der verspielten Stimme hinter den Bäumen nachzulaufen.

Aber das ist eine ganz andere Geschichte …

Schreib mir im Kommentar, wie es dir dabei geht, wenn du etwas von der Seele reden möchtest. Lass uns austauschen. Das ist unsere Spielwiese der Gedanken 🙂

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