Wenn „glücklich“ immer nur die Zukunft ist
Wie schaffe ich es, mit meiner Situation glücklich zu sein, obwohl ich noch nicht da bin, wo ich hin möchte? Kann ich dennoch im Hier und Jetzt zufrieden sein?
Montagmorgen. Noch halb im Schlaf putze ich mir die Zähne. Der Alltagskreislauf hat wieder begonnen. Gleich setze ich mich an denselben Stuhl, vor denselben Laptop und erledige die gleichen Aufgaben wie letzte Woche, und die Woche davor, und davor, und davor. Dabei sollte doch dieser Job im Homeoffice nur eine Zwischenlösung sein. Nur solange ich von meinem eigenen Herzensprojekt noch nicht leben kann. Doch mittlerweile fühlt es sich wie ein richtiger Job an. Und mein Herzensprojekt? Das dümpelt so vor sich hin. Meistens bin ich nach Feierabend schon zu müde, um mich noch damit zu beschäftigen. Mir fehlt der Elan, die Energie, der freie Kopf dafür.
Im Spiegel schauen mich zwei müde Augen an, herunterhängende Mundwinkel, fahle Haut, zerstrubbelte Haare. Auch egal. Wozu sich denn hübsch machen? Mich sieht doch sowieso keiner. Ich drehe mir schnell einen Dutt und wende mich von meinem Spiegelbild ab. Ich kann diesen Gesichtsausdruck nicht mehr sehen.
Der Alltag frisst die Energie auf
Als ich mit den Aufgaben für heute fertig bin, fühle ich mich ausgelaugt. Ich suche mir eine geführte Meditation aus, um meine Energie anzuheben. Vielleicht schaffe ich es, mich danach meinem Projekt hinzuwenden? Immerhin weiß ich ja schon, dass positive Stimmung zu der höheren Gefühlsfrequenz im Universum passt. Und je höher die Frequenz, umso leichter soll es gelingen, meine Ziele zu erreichen.
„Stell dir vor, wie dein Herz die Wellen des Glücks heraussendet. Alles, was du dir wünschst, ist bereits da“, höre ich die Stimme aus dem Kopfhörer langsam sagen, während die tibetischen Musikklänge mich in eine Art Trance versetzen sollen.
Doch so richtig kommt die Stimmung nicht bei mir auf. Ich erlebe jeden Tag das Gleiche, denselben Kreislauf, denselben Mist. Und dann soll ich mich bitteschön so fühlen, als ob ich in einer höheren Frequenz bin und schon alles bereits erreicht habe, nur um dann in der bitteren Realität wieder aufzuwachen.
Das führt nur zu einem neuen Kreislauf, aus dem es schwer ist, herauszukommen: Jeden Tag aufstehen und immer wieder aufs Neue feststellen, dass man nicht dort ist, wo man eigentlich hin will.
Ich rufe meine Schwester an und rede mir alles von der Seele.
„Oh, ich weiß ganz genau, wie du dich fühlst“, sagt Irina. „Ich kann mein fades Gesicht gerade auch nicht im Spiegel ansehen. Man ärgert sich über das eigene Aussehen, und dann darüber, dass man sich so gehen lässt. Man ärgert sich über die Situation, in der man steckt, und dass man noch nicht am Ziel angekommen ist.
Und so fängt es an: Man trägt eine Wut gegen sich selbst. Dabei geht es nicht einmal um das eigene Äußere, sondern dass man immer noch an dem Punkt ist, wo man sich abkämpft.“
Hör auf zu kämpfen und erkenne die Situation an
„Irgendwie müssen wir damit aufhören“, meine Schwester fährt gerade zu ihrer Bestform auf. „Wir müssen damit aufhören, zu kämpfen und uns dagegen zu sträuben, die gegenwärtige Situation anzuerkennen.
Stattdessen sollten wir lieber sagen: Die Situation ist jetzt so. Und alles, was JETZT ist, kann auch JETZT geändert werden. Und nicht uns darüber ärgern und die Negativität in die Zukunft projizieren. Das bringt uns doch nur dazu, zu denken: So wird es ja nie was. Dafür können wir doch sagen: OK, im Moment ist es so. Warum? Zum Beispiel weil ich gerade diesen Job mache, um mich finanziell zu verbessern, DAMIT ich meine Ziele erreichen kann.“
Auf einmal kommt mir mein Job gar nicht mehr als Hindernis vor, sondern als Mittel zu meinem eigentlichen Zweck.
Akzeptieren – ja, aufgeben – nein!
„Hör auf zu kämpfen“, fährt Irina fort. „Es DARF leicht sein, erinnerst du dich? Aus irgendeinem Grund wird es vielleicht vorgesehen sein, dass wir uns gerade an diesem Punkt befinden.
Akzeptiere, dass es so ist. Aber es bedeutet nicht, dass du aufgeben und nicht mehr weiterkommen wollen sollst. Nein. Wir müssen akzeptieren, wo wir uns gerade befinden, und GLEICHZEITIG danach streben, wo wir hin wollen“, schließt meine Schwester ab und fügt noch hinzu:
„Uns darüber ärgern, dass wir etwas noch nicht haben – das ist es doch gerade, was uns diese negativen Gefühle beschert.“
Ich denke einen Moment darüber nach. Es ergibt schon alles einen Sinn. Mein Kopf versteht es. ABER …
Kann ich im Jetzt glücklich sein, obwohl ich etwas anderes will?
„Wie soll ich eine vollkommene Akzeptanz der jetzigen Situation erreichen, wenn ich doch ganz genau weiß, dass ich nicht hier sein will, dass ich woanders hin will?“, entgegne ich. „Das ist doch paradox! Wenn ich etwas erreichen will, beinhaltet es dann nicht automatisch, dass ich da, wo ich gerade bin, nicht sein will? Sonst würde ich ja nicht etwas anderes erreichen wollen. Und an dem Punkt zu denken, dass es ist ok ist, wie es ist, fällt mir schwer.“
Jeden Morgen, bevor ich aufstehe, sage ich es mir in Gedanken. Wie ein Gebet bete ich es runter: Ich akzeptiere das, was ist. Ich akzeptiere das, was ist. Ich akzeptiere das, was ist.
„Es kommt kein Gefühl der Akzeptanz auf“, gestehe ich, „weil ich im nächsten Moment meine Ziele visualisiere, das, wo ich hin will. Und das beinhaltet ja schon, dass ich dieses IST nicht als Zustand akzeptiere. Ja, ich finde es nicht furchtbar. Ja, es ist ok. Aber ich will weiter. Wie soll ich nicht dagegen ankämpfen, wenn ich gleichzeitig mein Ziel verfolgen will? In dem Moment will ich mich doch in die Richtung des Ziels bewegen und damit auch gleichzeitig von dem Punkt weg, an dem ich jetzt bin. Wie vereine ich diese scheinbar gegensätzlichen Standpunkte? Entweder ich bin zufrieden, wo ich bin, oder ich bin es nicht und will DESHALB woanders hin.“
Warum uns die Zukunft wichtiger ist als der gegenwärtige Moment
Wenn ich darüber nachdenke, kenne ich wohl dieses Gefühl nicht, zufrieden zu sein mit dem, was gerade IST. Das habe ich nie gelernt. Die Wichtigkeit der Zukunft und das Bestreben, etwas in der Zukunft zu erreichen, wird uns doch schon in der Kindheit beigebracht:
„Warte bis zum Wochenende, dann gehen wir mit dir in den Zoo.“ „Wenn du jetzt ganz still bist, kaufe ich dir später ein Eis.“ „Sei brav, sonst kommt der Weihnachtsmann nicht zu dir.“ Wir alle haben diese oder ähnliche Sätze als Kind schon gehört, die uns suggerieren, dass das Jetzt nicht gerade spektakulär ist, während die Zukunft großartig und voller Freude ist.
Und so lernen wir das Jetzt zu ertragen, um in der Zukunft glücklich zu sein.
Die glückliche Zukunft – ein vorgehaltener Knochen
Auch für mich war das Jetzt bisher nur der Punkt auf der Zeitskala, von dem ich mich wegbewegen wollte. Die glückliche Zukunft war wie ein vorgehaltener Knochen für den Hund. Wenn ich dies oder jenes erreiche, dann bin ich was, dann kann ich was, dann bekomme ich was … Dann bin ich endlich vollkommen glücklich. Doch nie fühlte sich die Zielerreichung wirklich so gut an, wie vorgestellt.
Im Hier und Jetzt glücklich zu sein gelang mir bisher höchstens mal für ein paar Augenblicke. Bei einem schönen Sonnenuntergang zum Beispiel. Oder wenn mir etwas gelang. Oder beim Schlecken von Schokoladeneis. In dem Moment ist es schön. In dem einen Moment. Es ist wie wenn man den Atem anhält. Das Glück dauert nur kurz und du weißt, dass du es nicht für immer halten kannst.
Sobald die Sonne untergegangen oder das Eis gegessen war, war der Moment vorbei. Schnell verwischt die die Realität alle Spuren des schönen Moments und treibt dich wieder Richtung Zukunft an. Und weiter geht’s. Weg von dem Hier und Jetzt, hin zu dem, was erreicht werden soll.
Warum stellt sich das Gefühl, glücklich zu sein nicht dauerhaft ein, wenn man tatsächlich sein Ziel erreicht hat? Weil dann schon das nächste Ziel aus der Zukunft uns zuwinkt.
Der Weg ist wichtiger als das Ziel
„Vielleicht sollte der wirkliche Grund, warum wir vorankommen wollen, nicht die Zielerreichung sein, sondern der Neugierde sich WEITERZUENTWICKELN?“, wirft meine Schwester ein.
Da ist was Wahres dran, stelle ich überrascht fest. Denn das bedeutet, dass man nicht mehr die Erreichung des Ziels als Bedingung zum Glücklichsein, sondern den Weg dorthin in den Fokus setzt. So war es bei mir, als ich mein Buchmanuskript geschrieben habe. Mein Ziel war es nicht in erster Linie, dass das Buch erfolgreich wird. Ich habe es geschrieben, weil mich das Schreiben der Geschichte an sich erfüllte. Mein Glück war also nicht vom Erfolg des Buches abhängig, sondern vom Schreiben im Prozess.
Keine von uns beiden hatte noch etwas Schlaues zu dem Thema zu sagen und so legten wir auf. Es schien aber, dass wir die wirkliche Lösung für das Glücklichsein im Hier und Jetzt noch nicht ganz entdeckt haben.
Tue mehr von dem, was deiner Essenz entspricht
Kurze Zeit später klingelte wieder mein Handy und Irina war dran:
„Mir ist gerade, wo ich mit Django Gassi war, die einzig wahre Lösung dafür eingefallen!“ Meine Schwester klang, als wäre ihr die Entdeckung des Jahrhunderts gelungen. „Tu mehr von dem, was dir entspricht! Klingt erstmal so: Aha, super Idee. Aber ich dachte mir, solange man sich mit Dingen beschäftigt und mit Dingen umgeben ist, die nicht der eigenen Essenz, den eigenen Ansprüchen oder den eigenen tiefsten Wünschen entsprechen – also einfach nicht dem entsprechen, was man auf natürliche Art und Weise möchte – solange fühlt sich das Leben wie ein Kampf an.
Wenn man aber mehr und mehr von den Dingen tut, die einem sinnhaft erscheinen, die einem gut tun, je mehr man in die andere Welt, in die Welt der Freude eintaucht, umso kleiner erscheinen einem die Probleme, die jetzt so groß sind. Man füllt einfach die Gegenwart schon mal mit Dingen, die einem gefallen. Es können schon kleine Veränderungen, wie den Kleiderschrank erneuern oder einen neuen Tanzkurs ausprobieren, dabei helfen.
Je mehr man davon tut, was einen glücklich macht, umso öfter kommt man in das Grundgefühl der Freude, bis es zu einem „Normalzustand“ wird. Dann hat man seine Energie auf die Frequenz des Glücklichseins angehoben, ohne sich zwanghaft das Ganze vorzustellen! Und wenn man dann schon glücklich ist, ist der Weg zum Ziel kein Kampf mehr. Dann entwickelt man sich zum Ziel hin, ohne sein Glück davon abhängig zu machen.“
Manchmal denke ich, meine Schwester hätte den Buddha persönlich gefrühstückt. Oder das Gassigehen an der frischen Luft hat diese Wirkung gezeigt. So oder so, ich fand die Lösung genial. Nicht einfach dennoch, weil der innere Schweinehund jegliche Neuerungen zu verhindern versuchen wird.
Aber das ist eine ganz andere Geschichte …
P.S.: Dieses Gespräch hatten Irina und ich vor Beginn der Corona-Pandemie geführt. Doch als ich es nun aufschrieb, merkte ich, dass es auf die jetzige Zeit mehr denn je passt. Vielleicht hilft es dir auch, den Fokus vom Warten auf das Ende der Quarantäne wegzulenken, hin zu der Möglichkeit, im Hier und Jetzt glücklich zu sein. Schreib mir gerne ein Kommentar. Ich freue mich auf deine Gedanken.
P.P.S.: Die großartigen Fotos sind im Rahmen des Projekts „Corona Portraits | Ein Fotoshooting in Zeiten von Corona“ von der wunderbaren Fotografin Carina Pilz entstanden. Schaut euch mehr Fotos zu diesem Projekt auf Carinas Website an https://carinapilz.com/